Mittwoch, 9. April 2014

Fundstück #1: David Bowie. Outside.

Die David-Bowie-Ausstellung "David Bowie", zu der ich im letzten Jahr für den Knesebeck Verlag den sehr schönen Katalog übersetzt habe, kommt jetzt nach Berlin in den Martin-Gropius-Bau. 
Aus aktuellem Anlass ein Blick zurück zu meiner einzigen halbwegs persönlichen Begegnung mit dem Thin White Duke.



David Bowie - Die Rückkehr des Alien  


Der Meister gibt sich die Ehre: David Bowie, Rockikone, einstiger Glitterpapst, ewiger Gegenstromschwimmer, Kunst-um-der-Kunst-willen-Künstler lädt zum Gespräch. In den noblen Londoner Roof Gardens, gleich bei Harrods um die Ecke, haben sich Journalisten aus aller Welt versammelt, um sich das neuste Werk Outside erklären zu lassen. Japaner, Schweden, Australier, Spanier, Italiener drängeln sich um die Bar (hier ist alles umsonst und vom feinsten, versteht sich), angeln nach den Lachshäppchen und der Gänseleberpastete, die ein paar beflissene Kellner auf Silbertabletts anbieten und versuchen in allen möglichen Sprachen, die brüllend laute Endlosversion von “Heart’s Filthy Lesson” zu übertönen, mit der man uns beschallt. Mindestens die Hälfte der Anwesenden ist gut über Mitte Vierzig und gediegen im Anzug. Und mitten drin sitze ich mit einer uralten schwarzen Jeans und abgewetzten Schuhen. Meinen Mantel, das einzige halbwegs edle Stück Kleidung, hat mir gerade ein aufmerksamer Garderobier mit der Aufforderung “Madam, may I take your coat” abgenommen. Aber, auch egal: It’s schließlich only Rock’n’Roll.

Keine Frage, David Bowie ist ein Star, einer der ganz Großen, und dabei einer der letzten, die sich über eine lange, wechselvolle Karriere hinweg ihre Würde bewahrt haben. Während viele seiner einstigen Weggenossen mittlerweile im Mainstream untergegangen sind, hat Bowie es nach einigen halbherzigen Flirts mit bestehenden Trends mit seinem neuen Album wieder geschafft, sich zwischen alle Stühle zu setzen und eine Platte zu machen, die trotz zweier halbwegs singletauglicher Songs hauptsächlich eine bizarre Sammlung von Geräuschen, Stimmen, Grooves, Atmosphäre und viel Improvisation geworden ist. Outside ist ein ambitioniertes Kunstwerk. Kunst, eben richtig im intellektuellen, bedeutungsschweren Sinn. Outside ist kein Rock’n’Roll.


Wie sollte es auch. Schließlich hat Bowie nach langen Jahren zu dem Mann zurückgefunden, mit dem er in den späten Siebzigern seine einflussreichsten Alben aufgenommen hat, zu Brian Eno. Zusammen haben die beiden ein Konzeptalbum produziert, in dem Bowie - zum ersten Mal seit langer Zeit - wieder in verschiedene Rollen schlüpft, in gleich sieben diesmal, und auf dem es um einen Mord geht, das ein Spezialist für sogenannten künstlerisch motivierte Verbrechen aufklären soll. Was er natürlich auf Outside noch nicht tut, denn erstens wäre das zu einfach, und zweitens sollen bis zur Jahrtausendwende mindestens zwei weitere Alben zum gleichen Thema folgen.


Vorhang auf für David Bowie.

Seltsam, aber irgendwie sind sie alle viel kleiner, als man sie sich vorstellt, die sogenannten ganz Großen. Bowie wirkt sogar besonders zierlich, mit seinen schmalen Handgelenken, die aus rührend weiten Pulloverärmeln herausschauen - und überraschend frisch, jedenfalls jünger als die 48 Jahre, die er mittlerweile zählt. Das liegt vielleicht auch daran, dass der grässliche Ziegenbart, der zeitweise als Zeitgeist-Zugeständnis zu sehen war, jetzt wieder Geschichte ist. Bowie gibt sich souverän, aber nicht unbedingt arrogant; kleine Gesten, die verschränkten Arme und das ständige Spiel mit der unangezündeten Zigarette allein verraten eine gewisse Unsicherheit. Er zeigt sich aufmerksam und äußerst zuvorkommend, allerdings beileibe nicht zugänglich. Die kühle Distanz, die er über drei Karrierejahrzehnte gepflegt hat, bleibt gewahrt.


In den letzten Wochen hat er die Bühnentauglichkeit von Outside auf einer US-Tournee getestet und scheint mit dem Ergebnis zufrieden; das Konzert morgen abend in der Wembley Arena in London ist das erste auf der England-Tour, die im Januar und Februar auf dem Kontinent weitergeht.


"Die Begeisterung über das neue Material treibt mich jetzt wieder aus dem Haus", sagt er. "Das ist der einzige Grund. Ich gebe eigentlich nicht so gern Konzerte. Nach einer Woche habe ich meistens keine Lust mehr, es nochmal und nochmal zu machen. Deswegen toure ich wohl auch nur alle vier oder fünf Jahre."


Da sollten sich die Leute, die dich gern sehen wollen, wohl am besten alle auf die ersten Konzerte stürzen - für den Fall, dass du nachher keine Lust mehr hast?

Bowie lacht ein erstaunlich offenes und ehrliches Lachen.


"Nein, ich bin ein guter Soldat und lasse meine Leute nicht im Stich, aber ich weiß, was du meinst. Ja, vielleicht sollten alle morgen abend kommen, dann hätten wir es hinter uns."


Morgen wird zudem ein zweiter großer Name live zu sehen sein: Morrissey, den auch David Bowie bisher noch nicht persönlich kennengelernt hat.


"Ich lebe ja schon sehr zurückgezogen", sagt Bowie, "aber dieser Typ ist ja noch schwerer zu erwischen als ich! Er ruft mich einfach nie zurück!" Das Lachen ist jetzt sorgfältig berechnet, und er kontrolliert auch schnell mit einem Blick, ob der Witz angekommen ist. "Aber ich will damit nichts Schlechtes über ihn sagen, im Gegenteil, ich finde ihn wunderbar. Morrissey schreibt einfach nicht auf diese vorformulierte Art, sondern will die Dinge auf seine Art ausdrücken. Er schreibt nicht, um die Erwartungen des Publikums zu erfüllen, und das gefällt mir. Das ist auch für mich das Wichtigste. Wenn ich andere Sachen höre, dann habe ich oft das Gefühl, dass da jemand etwas macht, mit dem er mir gefallen will. Dann verliere ich meistens sehr schnell das Interesse."


Getreu diesem Motto ist auch Outside ein Album geworden, das kompromisslos gegen alle Erwartungen verstößt. Denn bloße Popmusik führt schließlich nirgendwo hin, jedenfalls nicht für den ambitionierten Künstler, der sich neue Welten erschließen will, und der sich daher selbst mit Musik auseinandersetzt, anstatt sie dem Hörer auf gefällige Weise darzubieten. Und so gibt es absichtlich so wenig Melodien auf dem Album.


"Songs interessieren mich nicht so sehr. Ich möchte mich lieber mit der musikalischen Struktur beschäftigen und Dinge bewegen. Ich möchte lieber Flüsse umleiten als Boote bauen. Mein Problem ist allerdings, dass ich von selbst in Melodien verfalle. Ich versuche, dagegen anzukämpfen, und Brian (Eno) versucht das noch mehr als ich. Aber das liegt mir einfach, ich schreibe einfach gute Melodien. Es wäre so leicht für mich, Melodien rauszubringen und ein Album nach dem anderen fertig zu machen."


Eine Einstellung, die eigentlich immer wieder gern gesehen wird, diese Abkehr vom schnöden Kommerz. Bei David Bowie findet sie allerdings nicht zugunsten des bloßen Gefühls statt, sondern - natürlich - zugunsten der Kunst. Das macht es ungleich schwieriger, denn der immer mal wieder hervorgekehrte hehre Kunstanspruch hat etwas so abgehoben Arrogantes an sich, dass man sich immer ein wenig fragt, wie viel davon eigentlich nun wirklich Bowies eigenes Bedürfnis, sich künstlerisch auszudrücken, entspringt, oder ob das nicht vielleicht doch nur simple Angabe sein soll (die ungeheuer gut funktioniert).


Vor dem Vergleich mit großen Namen hat Bowie jedenfalls keine Angst, wie sich zeigt, als wir auf die Cut-Up-Technik zu sprechen kommen, mit der er seine Texte erst schreibt, dann zerstückeln lässt und sie in anderer Folge wieder zusammensetzt - etwas, das er schon zu Ziggy-Stardust-Zeiten mit Schere und Klebestift gemacht und jetzt am Computer perfektioniert hat.


"Ich glaube, dieses Verfahren klingt immer viel mehr nach Zufall, als es eigentlich ist", sagt er nachdenklich. "Denn die Auswahl, wie und welche Textzeilen aufeinander folgen, treffe letztendlich immer noch ich. Wenn ich das ganz unbescheiden sagen darf: Das ist vielleicht so, wie James Joyce oder William Burroughs Sätze gegeneinander stellen. Es gibt einen roten Faden, der durch jedes Bruchstück in den Songs hindurchläuft und durchaus einen Sinn hat."


Der rote Faden, der sich durch das gesamte Outside-Album zieht, ist der Mord an einer 14-jährigen Ausreißerin namens Baby Grace, der in den letzten Tagen unseres Jahrtausends stattfindet. Ergänzt werden die Songs und Soundcollagen durch die fiktiven Tagebuchaufzeichnungen des ermittelnden Kommissars, die im CD-Booklet zu lesen sind. Bowie hat sichtlich Spaß daran gehabt, mal wieder eine Figur für sich zu erfinden; so viel, dass er nicht nur in die Haut des Kunstmord-Spezialisten, sondern auch noch in die Rollen der möglichen Verdächtigen sowie des Opfers schlüpft. Er selbst schreibt jetzt auch ein Tagebuch, seit er mit dem Album angefangen hat, und bedauert, aus der Zeit rund um 1977 (wohin die fiktiven Notizen ebenfalls verweisen) keine Aufzeichnungen mehr zu haben. Seitdem hat sich auch sein Interesse an der Schriftstellerei gesteigert. “Ich würde gern den Booker-Preis gewinnen”, erklärt er mit feinem Lächeln, “für irgendein Buch. Müsste ja nicht mein eigenes sein.”


Von der Entwicklung, die das blutrünstige Thema der Platte allmählich nahm, war er selbst überrascht.


"Wahrscheinlich ist es so, dass beim Improvisieren Dinge aus Träumen oder Alpträumen, aus dem Unterbewusstsein, plötzlich hochkommen. - Als wir auf der US-Tour jetzt in Philadelphia waren, lief dort gerade eine Ausstellung über Massenmörder. Sie hatten da diese Plastiksäcke für Leichen, Leichenteile, Skalpelle und alle möglichen anderen Dinge, die man mit Massenmördern so in Verbindung bringt. Ich habe nur die Kritik gelesen, ich wollte nicht hingehen und mir das ansehen. Ich bin nämlich eigentlich gar nicht so interessiert daran, weißt du … Mir scheint das lediglich den spirituellen Zustand der Menschen in dieser Zeit widerzuspiegeln."

Tatsächlich, auf immer mehr Platten und in immer mehr Filmen, ob “Natural Born Killers” oder Nick Caves “Murder Ballads” spielt Massenmord, künstlerisch in Szene gesetzt, eine Rolle. Hast du schon mal selbst daran gedacht, diese “Kunstform” Mord auszuprobieren?

Ein letztes Lachen. “Schon oft, ja, aber das hatte nie was mit Kunst zu tun.”


Am nächsten Abend dann die Premiere der Outside-Show in England. Morrissey spielt eine gut kalkulierte Stunde ohne Zugabe und wird, wie es zunächst scheint, dafür auch gefeiert; wie laut der Applaus hier in der Wembley Arena allerdings wirklich werden kann, zeigt sich, als zu den ersten Takten von “The Motel” Bowie selbst mit gemessenem Schritt in schlichtem, schwarzweißem, ärmellosem Dress die Bühne betritt. Vom ersten Augenblick an hat er das Publikum in der Hand - seine Präsenz ist einfach enorm, und das ohne irgendwelche besonderen Gimmicks. Die Lightshow ist gelungen, aber auch eher zurückhaltend, und gelegentlich auf die Bühne herabsinkende Gestalten in Drahtkörben oder irgendwelche Texttafeln spielen im Grunde keine große Rolle.


Bowie ist der ultimative Rockstar - Gesang und Bewegung verschmelzen zu einer perfekten Einheit, die zunächst keinen Augenblick Langeweile aufkommen lässt. Außerdem ist der Sound beeindruckend gut, und der Gesang dringt kristallklar und sauber in jeden Winkel. Bowies Bewegungen sind katzengleich und geschmeidig; zwar sicherlich genauso einstudiert wie die Choreographie bei Michael Jackson oder Madonna, wirken sie trotzdem spontan und lebendig.


Irgendwann jedoch macht sich bemerkbar, dass Outside eine anstrengende Platte ist, die sich besser fürs konzentrierte Zuhören im stillen Kämmerlein eignet. Bowie war sich dessen wohl auch bewusst und hat daher einige lang vermisste alte Juwelen noch einmal aufpoliert, “Scary Monsters” zum Beispiel oder auch “My Death” und “The Man Who Sold The World”. Diese Songs integrieren sich überraschend gut in die schwergängigen neuen Sachen, die leichter zu nehmen wären, wenn Gitarrist Reeves Gabrels weniger Zeit eingeräumt bekäme, um auf seinem Instrument herumzunudeln. Die erstickende, brutale Atmosphäre von Outside ist zu Hause jedenfalls leichter zu ertragen als in einer Halle mit achttausend anderen Menschen, wo die größere Lautstärke ihr noch mehr Intensität verleiht.


Und so hinterlässt dieses Konzert gemischte Gefühle. David Bowie ist zu sehr Profi und auch schlicht zu gut, um ein schlechtes, langweiliges Konzert zu geben. Für den vollkommenen Genuss hat Bowie die intellektuelle Künstlerlatte aber einfach zu hoch angelegt - zumindest für weniger kulturbeflissene Zeitgenossen wie mich, die sich bei einem Konzert gelegentlich mal ganz profan amüsieren wollen. Was bleibt, ist trotz allem das Gefühl, dass man etwas Geheimnisvolles, Großartiges, Fremdartiges erleben durfte, über das man noch ein bisschen länger nachdenken kann. Und, hm, mal überlegen - war das vielleicht genau das, was der Künstler wollte?


(erschienen in Zillo 2/1996)