Aus aktuellem Anlass ein Blick zurück zu meiner einzigen halbwegs persönlichen Begegnung mit dem Thin White Duke.
David Bowie - Die Rückkehr des Alien
Der Meister gibt sich die Ehre: David Bowie, Rockikone, einstiger Glitterpapst, ewiger Gegenstromschwimmer, Kunst-um-der-Kunst-willen-Künstler lädt zum Gespräch. In den noblen Londoner Roof Gardens, gleich bei Harrods um die Ecke, haben sich Journalisten aus aller Welt versammelt, um sich das neuste Werk Outside erklären zu lassen. Japaner, Schweden, Australier, Spanier, Italiener drängeln sich um die Bar (hier ist alles umsonst und vom feinsten, versteht sich), angeln nach den Lachshäppchen und der Gänseleberpastete, die ein paar beflissene Kellner auf Silbertabletts anbieten und versuchen in allen möglichen Sprachen, die brüllend laute Endlosversion von “Heart’s Filthy Lesson” zu übertönen, mit der man uns beschallt. Mindestens die Hälfte der Anwesenden ist gut über Mitte Vierzig und gediegen im Anzug. Und mitten drin sitze ich mit einer uralten schwarzen Jeans und abgewetzten Schuhen. Meinen Mantel, das einzige halbwegs edle Stück Kleidung, hat mir gerade ein aufmerksamer Garderobier mit der Aufforderung “Madam, may I take your coat” abgenommen. Aber, auch egal: It’s schließlich only Rock’n’Roll.
Keine Frage, David Bowie ist ein Star, einer der
ganz Großen, und dabei einer der letzten, die sich über eine lange,
wechselvolle Karriere hinweg ihre Würde bewahrt haben. Während viele
seiner einstigen Weggenossen mittlerweile im Mainstream untergegangen
sind, hat Bowie es nach einigen halbherzigen Flirts mit bestehenden
Trends mit seinem neuen Album wieder geschafft, sich zwischen alle
Stühle zu setzen und eine Platte zu machen, die trotz zweier halbwegs
singletauglicher Songs hauptsächlich eine bizarre Sammlung von
Geräuschen, Stimmen, Grooves, Atmosphäre und viel Improvisation geworden
ist. Outside ist ein ambitioniertes Kunstwerk. Kunst, eben richtig im
intellektuellen, bedeutungsschweren Sinn. Outside ist kein
Rock’n’Roll.
Wie sollte es auch. Schließlich hat Bowie nach
langen Jahren zu dem Mann zurückgefunden, mit dem er in den späten
Siebzigern seine einflussreichsten Alben aufgenommen hat, zu Brian Eno.
Zusammen haben die beiden ein Konzeptalbum produziert, in dem Bowie -
zum ersten Mal seit langer Zeit - wieder in verschiedene Rollen
schlüpft, in gleich sieben diesmal, und auf dem es um einen Mord geht,
das ein Spezialist für sogenannten künstlerisch motivierte Verbrechen
aufklären soll. Was er natürlich auf Outside noch nicht tut, denn
erstens wäre das zu einfach, und zweitens sollen bis zur
Jahrtausendwende mindestens zwei weitere Alben zum gleichen Thema
folgen.
Vorhang auf für David Bowie.
Seltsam, aber irgendwie sind sie alle viel kleiner,
als man sie sich vorstellt, die sogenannten ganz Großen. Bowie wirkt
sogar besonders zierlich, mit seinen schmalen Handgelenken, die aus
rührend weiten Pulloverärmeln herausschauen - und überraschend frisch,
jedenfalls jünger als die 48 Jahre, die er mittlerweile zählt. Das liegt
vielleicht auch daran, dass der grässliche Ziegenbart, der zeitweise
als Zeitgeist-Zugeständnis zu sehen war, jetzt wieder Geschichte ist.
Bowie gibt sich souverän, aber nicht unbedingt arrogant; kleine Gesten,
die verschränkten Arme und das ständige Spiel mit der unangezündeten
Zigarette allein verraten eine gewisse Unsicherheit. Er zeigt sich
aufmerksam und äußerst zuvorkommend, allerdings beileibe nicht
zugänglich. Die kühle Distanz, die er über drei Karrierejahrzehnte
gepflegt hat, bleibt gewahrt.
In den letzten Wochen hat er die Bühnentauglichkeit
von Outside auf einer US-Tournee getestet und scheint mit dem
Ergebnis zufrieden; das Konzert morgen abend in der Wembley Arena in
London ist das erste auf der England-Tour, die im Januar und Februar auf
dem Kontinent weitergeht.
"Die Begeisterung über das neue Material treibt
mich jetzt wieder aus dem Haus", sagt er. "Das ist der einzige Grund.
Ich gebe eigentlich nicht so gern Konzerte. Nach einer Woche habe ich
meistens keine Lust mehr, es nochmal und nochmal zu machen. Deswegen
toure ich wohl auch nur alle vier oder fünf Jahre."
Da sollten sich die Leute, die dich gern sehen
wollen, wohl am besten alle auf die ersten Konzerte stürzen - für den
Fall, dass du nachher keine Lust mehr hast?
Bowie lacht ein erstaunlich offenes und ehrliches Lachen.
"Nein, ich bin ein guter Soldat und lasse meine
Leute nicht im Stich, aber ich weiß, was du meinst. Ja, vielleicht
sollten alle morgen abend kommen, dann hätten wir es hinter uns."
Morgen wird zudem ein zweiter großer Name live zu
sehen sein: Morrissey, den auch David Bowie bisher noch nicht persönlich
kennengelernt hat.
"Ich lebe ja schon sehr zurückgezogen", sagt Bowie,
"aber dieser Typ ist ja noch schwerer zu erwischen als ich! Er ruft
mich einfach nie zurück!" Das Lachen ist jetzt sorgfältig berechnet, und
er kontrolliert auch schnell mit einem Blick, ob der Witz angekommen
ist. "Aber ich will damit nichts Schlechtes über ihn sagen, im
Gegenteil, ich finde ihn wunderbar. Morrissey schreibt einfach nicht auf
diese vorformulierte Art, sondern will die Dinge auf seine Art
ausdrücken. Er schreibt nicht, um die Erwartungen des Publikums zu
erfüllen, und das gefällt mir. Das ist auch für mich das Wichtigste.
Wenn ich andere Sachen höre, dann habe ich oft das Gefühl, dass da
jemand etwas macht, mit dem er mir gefallen will. Dann verliere ich
meistens sehr schnell das Interesse."
Getreu diesem Motto ist auch Outside ein Album
geworden, das kompromisslos gegen alle Erwartungen verstößt.
Denn bloße Popmusik führt schließlich nirgendwo hin, jedenfalls nicht
für den ambitionierten Künstler, der sich neue Welten erschließen will,
und der sich daher selbst mit Musik auseinandersetzt, anstatt sie dem
Hörer auf gefällige Weise darzubieten. Und so gibt es absichtlich so
wenig Melodien auf dem Album.
"Songs interessieren mich nicht so sehr. Ich möchte
mich lieber mit der musikalischen Struktur beschäftigen und Dinge
bewegen. Ich möchte lieber Flüsse umleiten als Boote bauen. Mein Problem
ist allerdings, dass ich von selbst in Melodien verfalle. Ich versuche,
dagegen anzukämpfen, und Brian (Eno) versucht das noch mehr als ich.
Aber das liegt mir einfach, ich schreibe einfach gute Melodien. Es wäre
so leicht für mich, Melodien rauszubringen und ein Album nach
dem anderen fertig zu machen."
Eine Einstellung, die eigentlich immer wieder gern
gesehen wird, diese Abkehr vom schnöden Kommerz. Bei David Bowie findet
sie allerdings nicht zugunsten des bloßen Gefühls statt, sondern -
natürlich - zugunsten der Kunst. Das macht es ungleich schwieriger, denn
der immer mal wieder hervorgekehrte hehre Kunstanspruch hat etwas so
abgehoben Arrogantes an sich, dass man sich immer ein wenig fragt, wie
viel davon eigentlich nun wirklich Bowies eigenes Bedürfnis, sich
künstlerisch auszudrücken, entspringt, oder ob das nicht vielleicht doch
nur simple Angabe sein soll (die ungeheuer gut funktioniert).
Vor dem Vergleich mit großen Namen hat Bowie
jedenfalls keine Angst, wie sich zeigt, als wir auf die Cut-Up-Technik
zu sprechen kommen, mit der er seine Texte erst schreibt, dann
zerstückeln lässt und sie in anderer Folge wieder zusammensetzt - etwas,
das er schon zu Ziggy-Stardust-Zeiten mit Schere und Klebestift
gemacht und jetzt am Computer perfektioniert hat.
"Ich glaube, dieses Verfahren klingt immer viel
mehr nach Zufall, als es eigentlich ist", sagt er nachdenklich. "Denn
die Auswahl, wie und welche Textzeilen aufeinander folgen, treffe
letztendlich immer noch ich. Wenn ich das ganz unbescheiden sagen darf:
Das ist vielleicht so, wie James Joyce oder William Burroughs Sätze
gegeneinander stellen. Es gibt einen roten Faden, der durch jedes
Bruchstück in den Songs hindurchläuft und durchaus einen Sinn hat."
Der rote Faden, der sich durch das gesamte Outside-Album zieht, ist der Mord an einer 14-jährigen Ausreißerin
namens Baby Grace, der in den letzten Tagen unseres Jahrtausends
stattfindet. Ergänzt werden die Songs und Soundcollagen durch die
fiktiven Tagebuchaufzeichnungen des ermittelnden Kommissars, die im
CD-Booklet zu lesen sind. Bowie hat sichtlich Spaß daran gehabt, mal
wieder eine Figur für sich zu erfinden; so viel, dass er nicht nur in
die Haut des Kunstmord-Spezialisten, sondern auch noch in die Rollen der
möglichen Verdächtigen sowie des Opfers schlüpft. Er selbst schreibt
jetzt auch ein Tagebuch, seit er mit dem Album angefangen hat, und
bedauert, aus der Zeit rund um 1977 (wohin die fiktiven Notizen
ebenfalls verweisen) keine Aufzeichnungen mehr zu haben. Seitdem hat
sich auch sein Interesse an der Schriftstellerei gesteigert. “Ich würde
gern den Booker-Preis gewinnen”, erklärt er mit feinem Lächeln, “für
irgendein Buch. Müsste ja nicht mein eigenes sein.”
Von der Entwicklung, die das blutrünstige Thema der Platte allmählich nahm, war er selbst überrascht.
"Wahrscheinlich ist es so, dass beim Improvisieren
Dinge aus Träumen oder Alpträumen, aus dem Unterbewusstsein, plötzlich
hochkommen. - Als wir auf der US-Tour jetzt in Philadelphia waren, lief
dort gerade eine Ausstellung über Massenmörder. Sie hatten da diese
Plastiksäcke für Leichen, Leichenteile, Skalpelle und alle möglichen
anderen Dinge, die man mit Massenmördern so in Verbindung bringt. Ich
habe nur die Kritik gelesen, ich wollte nicht hingehen und mir das
ansehen. Ich bin nämlich eigentlich gar nicht so interessiert daran,
weißt du … Mir scheint das lediglich den spirituellen Zustand der
Menschen in dieser Zeit widerzuspiegeln."
Tatsächlich, auf immer mehr Platten und in immer mehr Filmen, ob “Natural Born Killers” oder Nick Caves “Murder Ballads” spielt Massenmord, künstlerisch in Szene gesetzt, eine Rolle. Hast du schon mal selbst daran gedacht, diese “Kunstform” Mord auszuprobieren?
Ein letztes Lachen. “Schon oft, ja, aber das hatte nie was mit Kunst zu tun.”
Am nächsten Abend dann die Premiere der Outside-Show in England. Morrissey spielt eine gut kalkulierte Stunde
ohne Zugabe und wird, wie es zunächst scheint, dafür auch gefeiert; wie
laut der Applaus hier in der Wembley Arena allerdings wirklich werden
kann, zeigt sich, als zu den ersten Takten von “The Motel” Bowie selbst
mit gemessenem Schritt in schlichtem, schwarzweißem, ärmellosem Dress
die Bühne betritt. Vom ersten Augenblick an hat er das Publikum in der
Hand - seine Präsenz ist einfach enorm, und das ohne irgendwelche
besonderen Gimmicks. Die Lightshow ist gelungen, aber auch eher
zurückhaltend, und gelegentlich auf die Bühne herabsinkende Gestalten in
Drahtkörben oder irgendwelche Texttafeln spielen im Grunde keine große
Rolle.
Bowie ist der ultimative Rockstar - Gesang und
Bewegung verschmelzen zu einer perfekten Einheit, die zunächst keinen
Augenblick Langeweile aufkommen lässt. Außerdem ist der Sound
beeindruckend gut, und der Gesang dringt kristallklar und sauber in
jeden Winkel. Bowies Bewegungen sind katzengleich und geschmeidig; zwar
sicherlich genauso einstudiert wie die Choreographie bei Michael Jackson
oder Madonna, wirken sie trotzdem spontan und lebendig.
Irgendwann jedoch macht sich bemerkbar, dass Outside eine anstrengende Platte ist, die sich besser fürs
konzentrierte Zuhören im stillen Kämmerlein eignet. Bowie war sich
dessen wohl auch bewusst und hat daher einige lang vermisste alte
Juwelen noch einmal aufpoliert, “Scary Monsters” zum Beispiel oder auch
“My Death” und “The Man Who Sold The World”. Diese Songs integrieren
sich überraschend gut in die schwergängigen neuen Sachen, die leichter
zu nehmen wären, wenn Gitarrist Reeves Gabrels weniger Zeit eingeräumt
bekäme, um auf seinem Instrument herumzunudeln. Die erstickende, brutale
Atmosphäre von Outside ist zu Hause jedenfalls leichter zu ertragen
als in einer Halle mit achttausend anderen Menschen, wo die größere
Lautstärke ihr noch mehr Intensität verleiht.
Und so hinterlässt dieses Konzert gemischte
Gefühle. David Bowie ist zu sehr Profi und auch schlicht zu gut, um ein
schlechtes, langweiliges Konzert zu geben. Für den vollkommenen Genuss
hat Bowie die intellektuelle Künstlerlatte aber einfach zu hoch angelegt
- zumindest für weniger kulturbeflissene Zeitgenossen wie mich, die
sich bei einem Konzert gelegentlich mal ganz profan amüsieren wollen.
Was bleibt, ist trotz allem das Gefühl, dass man etwas Geheimnisvolles,
Großartiges, Fremdartiges erleben durfte, über das man noch ein bisschen
länger nachdenken kann. Und, hm, mal überlegen - war das vielleicht
genau das, was der Künstler wollte?
(erschienen in Zillo 2/1996)